Otfried Staudigel

Wie ich an das Brettchenweben geriet

Es begann mit der Familiengeschichte meiner Mutter Gertrud Staudigel-Scharlau, die 1885 in Singapur zur Welt kam. Ihr Vater und der Bruder ihrer Mutter waren Segelschiffskapitäne. Hermann L. Schück, ihr Onkel, hatte früher mit dem eigenen Schiff verschiedene Häfen im Sulu Archipel und auf Borneo angesteuert und mit deren Bewohnern selbständig Handel getrieben. Jetzt besaß er Land auf der Insel Jolo, das ihm der Sultan von Sulu geschenkt hatte. Ihr Vater Heinrich Scharlau bereiste die Inseln im Auftrag chinesischer Händler, die in Singapur wohnten.

Bedingt durch die Krankheit und den sehr frühen Tod ihres Vaters, kam meine Mutter recht bald nach Deutschland zurück und war schließlich an der Kunstgewerbe-Akademie in Dresden tätig. Dorthin brachte ihr einer ihrer Verwandten aus dem Schück-Clan ein einzelnes Webebrettchen und berichtete, dass die Eingeborenen einer der von ihm besuchten Inseln (war es Borneo, Sumatra oder Celebes-Sulawesi?) mit ganzen Päckchen solcher Täfelchen Bänder webten. Sie als gestandene Handarbeitsexpertin solle herausfinden, auf welche Weise das getan werden könne.

Tatsächlich gelang es ihr, mit dieser ihr nicht bekannten Technik, ein Band zu weben. Das kann etwa im Jahr 1905 gewesen sein, also einige Jahre nachdem Margarethe Lehmann-Filhés das Buch ‚Über Brettchenweberei’ herausgegeben hatte, von dem meine Mutter damals noch nichts gehört hatte.

Das Wesentliche ist, dass sie eine ihr neue Webtechnik erlernt hatte, ohne je ein Band gesehen zu haben, das auf diese Weise gewebt worden war. Sie erkannte sogleich, welche Möglichkeiten sich damit anboten, bunte gemusterte Bänder zu weben. Sie hatte also nicht damit begonnen, vorgegebene traditionelle Muster nachzuweben; sondern sie entwarf völlig neue Muster für Bänder, die unter anderem als Kleiderbesatz, als Lautenband, Gürtel, Hosenträger, für Taschen und als Kissenbezüge verwendet werden konnten. Ihre Arbeiten wurden in Zeitschriften wie `Frauenkultur’ und `Westermanns Monatsheften’ gezeigt.

Zum Beginn der Dreißiger Jahre sorgten Diskussionen um den so genannten Ramsesgürtel in Liverpool für den wichtigsten Gesprächsstoff in unserer Familie. Dieses altägyptische Band gab allen Textilexperten Rätsel auf, denn über seine ganze Länge hinweg (515cm) wurde es immer schmaler (von 13cm auf 5cm), was seine Herstellung mit den allgemeiner bekannten Webemethoden ausschloss.

Meine Mutter vertrat die Ansicht, dass jenes Stück mit vier- und sechslochigen Brettchen gewebt worden sei. Vom Grassimuseum in Leipzig wurde sie beauftragt, das Stück in Liverpool zu untersuchen und eine Kopie davon anzufertigen, was sie auch tat.

Im Jahr 1937 als ich gerade zwölf Jahre alt war starb meine Mutter. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch kein Brettchen angerührt („Das ist viel zu schwierig für Kinder…“), und es fehlte mir jegliche Einsicht in die Einzelheiten jener Webtechnik.

Als ich 1949 in einem Heim für behinderte Jugendliche in Schottland arbeitete, war der Stand meiner Erkenntnisse nicht viel besser. Aber auch so erlaubte man mir, den Jugendlichen in ihrer Freizeit das Brettchenweben beizubringen.

Damals traf dort eine neue Mitarbeiterin aus Deutschland ein, die eine aus Brettchenbändern zusammengenähte Schultertasche trug, die sie auf der Loheland-Schule gewebt hatte. Von ihr lernte ich, wie man eine Kette ohne Mühsal aufzieht.

Während meiner Zeit in Schottland und England betrübte es mich, dass dort die Arbeit meiner Mutter am Ramsesgürtel nicht anerkannt wurde. Man behauptete, dass sie für ihre Kopie mit den sechs- und vierlochigen Brettchen mehr Kettfäden benutzt hätte, als im Original verwendet worden seien. Für eine exakte Kopie benötigte man vier- und fünflochige Brettchen, doch damit sei es unmöglich, die Muster des Gürtels weben.

Als ich endlich die Gelegenheit hatte, das Original in Liverpool zu untersuchen, sah ich, dass die Einwände der englischen Experten tatsächlich zutrafen und dass keine sechslochigen Brettchen verwendet worden waren. Jedoch konnte ich ebenfalls eine Methode zeigen, durch welche sich die Muster sehr wohl mit fünflochigen Brettchen weben ließen. Dabei ist mir allerdings wiederum ein kleiner Fehler unterlaufen, den mein Freund Peter Collingwood entdeckte. Der hat schließlich unwiderlegbar festgestellt, dass der Ramsesgürtel nicht mit Brettchen gewebt worden ist.

Es wird deutlich sein, dass ich mich für diese Arbeiten ganz intensiv mit dem Brettchenweben befassen musste und dass ich es nicht mehr aus meinem Leben verdrängen kann. Hinzu kommt die bei meiner Mutter erlebte Neigung, eigene neue Muster zu entwerfen. Dass ich die orientalischen Bildmuster entschlüssele, geschieht eher beiläufig, weil ich es nun einmal kann und weil ich hoffe, dadurch jene schönen Muster vor dem Vergessen zu bewahren. Meine eigentliche Vorliebe gilt aber den modernen bunten Mustern in der einfachsten Schnurtechnik, von denen 25 Stück in meinem ersten Buch enthalten sind und von denen einige, wenn auch leicht verändert, von meiner Mutter stammen.

Ich hoffe, den Lesern meiner Bücher etwas von der Freude am Brettchenweben vermitteln zu können.

Otfried Staudigel

band

How I happened to become a tablet weaver

It all started with my mother, Gertrud Staudigel-Scharlau, who was born in Singapore in 1885. Her father and uncle were both master mariners who called into ports on the Sulu Archipelago and in Borneo where they supplied the inhabitants with various goods. Heinrich Scharlau, her father, did this on behalf of Chinese traders in Singapore, whereas her uncle, Hermann L. Schueck, who owned land on the island of Jolo, did it for his own benefit and with his own sailing vessel.

Due to the illness and early death of Heinrich Scharlau, my mother soon returned to Germany where she eventually taught at the Kunstgewerbe-Akademie (Arts and Crafts Academy) in Dresden. During that period, one of her relatives in the Schueck family brought her one single weaving tablet and told her that the natives of one of the islands that he visited (Borneo, Sumatra or Celebes – Sulawesi) wove bands with the help of whole packs of such tablets. As a skilled handicrafts expert, she should be able to figure out how it was done; indeed, she managed to weave a band with no other information than what her relative had given her. That may have taken place around 1905, thus it was several years after Margarethe Lehmann-Filhés had published her book ‘Ueber Brettchenweberei’. But my mother was unaware of this book at the time she woven her first band.

The essential point is that she learned a new technique from hearsay and without ever having seen samples woven in that way. She grasped the possibilities that were inherent in the technique of weaving colourful patterns, but she did not begin by copying traditional patterns woven by ethnic weavers. Instead, she designed her own entirely new patterns which were used as trim on dresses, as lute bands, as belts and men’s braces, for bands on shoulder bags, or as trim on cushions covers. Her products were published in German journals like ‘Frauenkultur’ or ‘Westermanns Monatshefte’

In the early 1930s, problems pertaining to the so-called Rameses Girdle in Liverpool played an important role in our family. This band from ancient Egypt has a length of 515 cm, and along its length it tapers considerably in width from 13cm to 5cm. For this reason, no expert could give a plausible explanation about how it might have been woven. My mother maintained that it could be woven with several groups of tablets with four and six holes. She then was asked by the Grassi Museum in Leipzig to examine the Girdle in Liverpool and to weave a copy of it, which she did. That accomplishment was widely celebrated in the German media.

My mother died in 1937 when I just had turned twelve. At that time, I had not touched a single tablet (“Much too difficult for Children”, my mother said.), and I lacked the insight into the details of the technique.

When, in 1949 I worked in Scotland in a home for handicapped boys from underprivileged situations, my knowledge was not much better. Nevertheless, I was allowed to do tablet weaving with those boys as a form of occupational therapy.

During that time period, a new co-worker from Germany was shown around the place. She had a shoulder bag made of tablet woven bands sewn together which she had made while at the Loheland-Schule in Germany. She showed me how to set up a warp in a simple way.

While staying in the UK, I was upset to discover that my mother’s achievement with the Rameses Girdle was not recognised. Experts claimed that her reproduction with four- and six-holed tablets used more warp threads than are in the original band. To weave a true copy, you would need tablets with four and five holes. With such a combination, however, it would not be possible to weave the patterns found on the original.

When I finally had the opportunity to examine the original in Liverpool, I found that the objections of the English experts were justified, and that no six-holed tablets had been used. However, I also could demonstrate a method by which, indeed, the patterns could be woven with five-holed tablets. But this method again had some problems which my friend Peter Collingwood discovered. He finally and irrefutably confirmed that the so-called Rameses Girdle in Liverpool had not been woven with tablets.

While working on that project, I was very intensely occupied with tablet weaving which is now an intrinsic part of my life. Furthermore, I like the feeling of inventing new patterns which I inherited from my mother. That I unravelled Oriental pictorial motifs occurred rather coincidentally, mainly because I am very familiar with how these motifs are woven. Also I hope, in this way, to save these beautiful designs from being forgotten. But my true love is for modern, colorful patterns in simple, plain tablet weave of which 25 are contained in TABLET WEAVING MAGIC. A few of them, although slightly changed, are from my mother.

I hope to instil in the readers of my books some joy in practising tablet weaving.

Otfried Staudigel